Ein Haus vieler unbekannter Seiten

Claus Käpplinger, 1996

Architektur Aktuell, March 1996

Als Haus des Buches umschreibt das Hebräische die Bedeutung von Schule. Die Wertschätzung, die die jüdische Kultur der Bildung ihrer Kinder beimisst, kommt darin sehr bildhaft zum Ausdruck. Als ein Buch mit vielen aufgeschlagenen Seiten lässt sich auch die neue jüdische Grundschule in Berlin lesen. Doch es wäre kein Buch, noch weniger ein Gebäude des israelischen Architekten Zvi Hecker, wenn sich nicht noch weitere Assoziationen und Exegesen darüber entspinnen würden. Fünf Jahrzehnte nach dem Holocaust wieder eine jüdische schule in Berlin zu haben, war eine besondere Herausforderung. simple Normalität, ein herkömmlicher Schulbau wären der Aufgabe kaum gerecht geworden. Es war vielmehr eine Art von Verpflichtung die Berliner Senat und jüdische Gemeinde bewogen, der Wiederaufnahme, gar Intensivierung jüdischen Gemeindelebens in Berlin eigenen Ausdruck zu verleihen. Dies empfand auch 1990 die Jury des offenen Realisierungswettbewerbs mit 83 teilnehmenden israelischen und deutschen Architekten, als sie Zvi Heckers Entwurf erst in einer zweiten Etappe, nach einer Überarbeitung, endgültig zur Ausführung empfahl. Den Auslobern erschien jedoch dessen schule so ungewöhnlich, dass die Jury sogar noch über ihre Entscheidung hinaus im Protokoll konstruktive wie baurechtliche Bedenken äußern musste.
Damit begann ein einzigartiger Prozess, die Transformation einer Idee, die in Israel entstanden war, in eines der jüngsten und ungewöhnlichsten Raumgebilde der Berliner Architekturlandschaft.

Wer nicht um ihre Existenz weiß, wird die Heinz-Galinski Schule bei einem Besuch Berlins auch kaum kennenlernen. Am südwestlichen Rand Charlottenburgs, dort wo die Stadt mit einem Einfamilienhausteppich in den Grünewald übergeht und sich unzählige Sportplätze aneinanderreihen, liegt sie verborgen am Ende der kleinen Waldschulallee. Kaum bekannte Bauten, wie Bruno Tauts Häuser am Eichkamp oder Fred Forbats Mommsenstadion, aber auch die ferne Präsenz des Teufelsbergs, jenes Überbleibsels nationalsozialistischer Hybris und des Bombenkriegs, unter dessen Trümmern die Wehrtechnische Fakultät verschwand, sind ihre einzigen bemerkenswerten Nachbarn.
Das schmale wie tiefe Waldgrundstück, eingerahmt von einer Sporthalle und dem sehr freien Konglomerat zweier Waldschulen, erlaubt keinen Blick aus der Ferne. Von der Straße wird der Passant des Neuen nur unmittelbar davorstehend ansichtig. Erst nach dem Passieren der Sicherheitsschleuse, des Pförtnerhauses, eröffnet sich ein Teil des Puzzles dieser Schule, die eigentlich keine Schule im herkömmlichen Sinn zu sein scheint. Nach dem gewohnten Abzählreim - Hauptgebäude, Pausenhof und Turnhalle – ist sie nicht zu fassen. Es ist vielmehr eine kleine Stadt, die sich plötzlich um einen kreisförmigen Platz auftut. Eine nie zuvor gesehene Stadt der Kinder, die viele Erwachsene befremdet und dennoch bekannte Bilder evoziert. Mittelalterliches Straßengewirr, der Raumgestus expressionistischer Filmklassiker, organische Architektur und ein Funken Dekonstruktion sind zu einem höchst individuellen Raumerlebnis zusammengeflossen. Das Ergebnis erscheint so befremdend, dass sich Berlins Bausenator Wolfgang Nagel an Jerusalem erinnert fühlte. Dabei sieht sich der 1931 geborene Architekt Zvi Hecker durchaus in einer Berliner Traditionslinie, die jedoch heute in der Stadt eher verpönt ist, nämlich der großen organischen Architekturtradition, die Berlin von Mendelsohn über Scharoun bis zu Fehling mitprägte.

Wie schon bei vielen seiner Bauten in Israel war es die Spirale - zu Beginn als Sonnenblume interpretiert -, die den Architekten leitete.
Zum einen war es das Bild ihrer sich überlappenden Blütenblätter, was ihn antrieb, zum anderen aber auch ihre Symbolik als Lichtzeichen. Fern von simplen formalen Anleihen abstrahierte er die Sonnenblume in Hunderten von Zeichnungen zu einem höchst eigenwilligen Raumgebilde. Unter dem Eindruck der Dynamik der Großstadt überlagerten dann jedoch immer mehr Strahlen die zuvor dominanten Spiralen seiner ersten Entwürfe. Fünf große längliche und mehrere kleinere ,,Blätter", die in strahlenförmiger Dynamik dem Eingangsplalz zu entfliehen scheinen, umschließen hier Gassen und verschwiegene Plätze, die sich nie auch nur annähernd gleichen.

Dem Fremden fällt darin die Orientierung schwer, wurde doch auf einen zentralen Eingang und ein Hauptgebäude bewusst verzichtet. Wohl nicht nur er ist versucht, jedem Schritt vorwärts mindestens einen halben Schritt rückwärts folgen zu lassen, so übenvältigend ist die formale und materielle Vielfalt der erfahrenen amorphen Gebäudeschichten. Auf den unterschiedlichsten Höhen schlängeln sich mit Zinkblechen verkleidete Schlangen von einem Gebäude zum anderen. Nichts anderes als Korridore befindet sich dahinter, die Inspiration zu dieser Lösung lieferte
Ludwig Leos beeindruckender Umlaufkanal an der Straße des 17. Juni. In unzähligen Skizzen transformierte sich der Kanal zuerst in phantastische Figuren und schließlich zu den Schlangengängen der Schule. Beim hohen Hallennachbarn enden diese gewundenen Strahlen und Gassen dann überraschend abrupt: mit einem haften orthogonalen Schnitt. In gewandelter Form kehrt dieses Motiv an der Westseite der kleinen irrektangulären Höfe wieder: Hier ist die Hochbahn vergleichbar scharf in den Berliner Blockraster eingeschnitten. Immer wieder tritt der von den Bauten des Brutalismus in so schlechter Erinnerung behaltene ,,beton Brut" hervor, der dem Eleganten eine sehr rauhe, widerspenstige Resistenz bietet. Weiß und Grau verputzte Wände wechseln sich kaum vorhersehbar miteinander ab, laufen gar über die Gebäudegrenzen in den Freiraum aus. Das schimmernde Schwarz simpel mit Bitumenpappe beklebter Wände und angenehm warme, rötliche Fensterrahmen aus Holz fugen dem Materialspiel farbliche wie textile Akzente hinzu. Es ist eine szenische Architektur voller spielerischer Freude, die kanten- und linienreich den Körpern immer neue Schichten abgewinnt. Die Hauswand ist hier Raum, der durchdrungen wird, dem funktionsfreie Schichten und Rahmen vorgesetzt werden, wo aus Ecken und Flächen unerwartete Balkone vorspringen. An manchen Stellen droht der Formenreichtum dennoch überzuborden. Die sich überkreuzenden Metallrahmen zwischen den Segmenten stehen beziehungslos im Raum.
Die Entdeckung rätselhafter Raumbeziehungen ist hingegen die Stärke einer Architektur, die das Sonnenlicht in Reflexion oder in dessen Negation als Schattenfall tief in alle Räume eindringen lässt. Mehr dem architektonischen Formwillen als den hohen Sicherheitsforderungen an eine jüdische Schule geschuldet, kehrt sie sich bewusst nach innen, öffnen sich die Zimmer zu den Gassen, aber kaum zur Umgebung. Die Schule steht in einem Wald, ohne jedoch ein Teil davon zu werden. Architektur tritt hier selbstbewusst und ohne Dominanz zu beanspruchen als Raum des Menschen neben die Natur.

lm Inneren gleicht dabei kein Raum wie auch kein Klassenzimmer einem anderen. Nichts scheint orthogonal zu sein, jeder Raum weist
auf seine Nachbarn hin. Immer wieder eröffnen sich neue Perspektiven, deuten Asymmetrien auf die vielen Geheimnisse der Anlage hin. Treppen und Korridore sind darin keine schlichten Wege, sondern Erlebnisräume. Kleine Fenster oder Durchbrüche wecken beständig die Neugier, dies und das zu ergründen. Und auch der nackte, oft nicht einmal gereinigte Schalungsbeton kehrt im Innern wieder. Angesichts der vielfältigen, dennoch häufig scheiternden Bemühungen deutscher Architekten um einen sorgfältig gearbeiteten Sichtbeton setzte Zvi Hecker demonstrativ auf seine brutale, ungeschönte Beschaffenheit. Und sieht man die unvermittelt harten Übergänge, vom sehr Rauhen zu elegant ausgearbeiteten Putz- und Holzflächen, die jedoch in der Detailausführung manche Sorgfalt vermissen lassen, müsste man sich eigentlich voller Abscheu abwenden. Doch ist der Beton, ähnlich mancher unverputzt gebliebenen Mauerwand nur ein weiteres taktiles wie visuelles Ereignis, das die Fugung der Teile preisgibt. Unbeschadet von deren Rauheit ist dabei die Architektur durch und durch human. So bieten an den Fensterfronten niedrige Sitzbänke über den Heizkörpern den Kleinen die Möglichkeit, wohlig warm den Wechsel der Jahreszeiten und die Außenräume zu erfahren. Nur die verschworene Gemeinschaft der Schuler und Lehrer wird sich allmählich das Wissen aneignen können, welcher Weg durch dieses Labyrinth zu welchem Ziel führt. Dem Fremden bleibt der Zutritt ohnehin zumeist versperrt. Berliner Wachschutz, israelische Sicherheitsbeamte und die Sicherheitsschleuse des Pförtnerhauses stellen für viele Neugierige eine unüberwindliche Barriere dar. Jüdisches Gemeindeleben ist in Deutschland immer noch allein unter dieser Einschränkung möglich. Bedauerlich, dass eine größere Öffentlichkeit so kaum je die Schule erfahren wird, zumal in einer Zeil, da Berlin einem fragwürdigen, nüchternen Schulbautypus zustrebt. Ob architektonische Strenge und radikale Reduzierung von Vielfalt den Bedürfnissen von Kindern entsprechen, mag ruhig angezweifelt werden. Bei diesem ersten jüdischen Schulneubau in Berlin konnten sich Zvi Hecker und seine findige Berliner Kontaktarchitektin Inken Baller nur mit viel „Narrenfreiheit" gegen Unverständnis und Widerstände durchsetzen. Ein Davidstern oder zum Gottesdienst wie Torastudium nutzbare Mehrzweckräume, dies ist alles, was daran spezifisch jüdisch ist. Und dennoch ist mit der Heinz-Galinski- Schule ein einzigartiger Ort entstanden. Sie sollte heute als eine Herausforderung verstanden werden, endlich wieder mehr im Berliner Schulbau zu wagen.

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